„Globaler sozialer Frieden nur mit anderer Politik“

Professorin Dr. Sabine Hess fordert im Interview „humanitäre Visa“ und eine „transnationale Zivilgesellschaft“.

Seit über 20 Jahren beschäftigt sich die Göttinger Professorin Dr. Sabine Hess mit Migration. Aus ihrer Sicht gibt es einen „großen Grau-Bereich“ zwischen erzwungener Flucht und freiwilligem Aufbruch. Obwohl Fachkräfte in Deutschland „sehr willkommen“ seien, müssten viele Migranten mit akademischen Abschlüsse, „putzen, auf Babys aufpassen oder in der Altenpflege arbeiten“.

 

 

 

 

Wodurch gelingt Integration besser?

Durch Bürgerrechte,

durch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Solange wir keine

vollkommenen Arbeitsrechte gewähren, keine gleichwertigen Rechte im

Bildungssystem, im Gesundheitssystem, solange dürfen wir nicht erwarten,

dass Integration gelingen kann. Sie ist dann auch gar nicht gänzlich

gewollt.

Mit welcher Fluchterfahrung kommen die Menschen nach Deutschland?

Viele

sind lange unterwegs, teilweise über Jahre. Auf dem Weg entstehen

Traumata, manche wurden gekidnappt oder zu Zwangsarbeit rekrutiert.

Solche Verfolgungssituationen sind im Asylverfahren leider unbedeutend.

Daher ist ein neues Schutzsystem nötig, welches auf die Bedingungen der

Flucht eingeht. Einige Leute bringen absurde Wege hinter sich, von

Syrien in die Türkei, dann in den Libanon, von dort durch die

nordafrikanischen Länder, schließlich über Marokko nach Spanien, nach

Frankreich, um nach Deutschland zu kommen, wo ihre Verwandten sind.

Was muss Europa ändern?

Das

einfachste wäre, humanitäre Visa zu gewähren. Europa darf Syrien und

die Türkei nicht zu offenen Gefängnissen machen. Die Bundesregierung

versucht Willkommenskultur zu mimen, aber die Zustände auf den

griechischen Inseln sind allarmierend. Dort werden Helfer von der

EU-Grenzschutzagentur Frontex kriminalisiert. Migration wird immer

stattfinden. Wir brauchen eine andere Politik, um globalen sozialen

Frieden herzustellen.

Bei durchlässigen Grenzen fürchten viele Europäer um ihre Identität.

Unsere

Politiker spielen gerne die nationale Karte, besonders im Wahlkampf.

Das ist furchtbar, es müsste unter Strafe gestellt werden. Sie tun so,

als könnten wir durch schärfere Kontrollen alles wieder in den Griff

kriegen. Alle wissen, dass das eine Lüge ist. Die Menschen sind so

verzweifelt, sie werden weiterhin Mittel und Wege zur Flucht finden. Die

Frage ist, wie lange es sich das angeblich zivilisierte Europa noch

leisten kann, einen unerklärten Kriegszustand zu leben gegen die

weltweite Migration.

Was lehrt Ihre Forschung dazu?

Wir

müssen dafür sorgen, dass eine transnationale Zivilgesellschaft

entsteht, die andere Ethiken formuliert. Entlang der Balkanroute

engagieren sich Leute aus Australien, Kanada, Norwegen, um die

Migrantinnen und Migranten zu unterstützen. Das macht Hoffnung. In

vielen Herkunftsländern und Transitstaaten bestehen Initiativen, die es

dem Grenzregime schwer machen, seine Gewaltpolitiken zu verschleiern.

Bei aller Trauer und Wut, bin ich optimistisch, dass noch nicht das

letzte Wort gesprochen ist.

 

Interview: Johannes Broermann